Frequenzpolitik zwischen Fortschritt und Fragmentierung

Warum Europa das obere 6-GHz-Band für WLAN öffnen sollte – ein Plädoyer für technologisch kooperative Frequenznutzung


1. Ausgangspunkt: Das obere 6-GHz-Band als digitale Schlüsselressource

Die digitale Transformation Europas steht und fällt mit dem Zugang zu funktechnischen Ressourcen. Frequenzbereiche wie das obere 6-GHz-Band (6425–7125 MHz) zählen zu den letzten größeren zusammenhängenden Mid-Band-Spektren, die noch nicht flächendeckend zugewiesen sind. Die Anforderungen an moderne Kommunikationsdienste wachsen stetig: Cloud-basierte Arbeitsumgebungen, immersive Medienanwendungen, drahtlose Industrieprozesse, Echtzeitdiagnostik in der Medizin oder kooperative Mobilitätslösungen benötigen drahtlose Übertragungskapazitäten mit hoher Bandbreite und geringer Latenz.

Während die untere Hälfte des 6-GHz-Bandes (5925–6425 MHz) in der EU bereits für lizenzfreie WLAN-Nutzung (Wi-Fi 6E) freigegeben wurde, ist die obere Hälfte bislang ungenutzt. Diese Situation wird derzeit intensiv diskutiert – zwischen den Interessen großer Mobilfunkanbieter (die auf eine exklusive Lizenzierung für 6G drängen) und der Allianz aus Netzwerkherstellern, Verbänden und Internetwirtschaft, die eine Öffnung für lizenzfreie WLAN-Nutzung fordern. Der politische Handlungsdruck steigt, denn viele andere Länder haben bereits Fakten geschaffen.


2. Der technologische Bedarf: Wi-Fi 6E, Wi-Fi 7 und die Rolle des 6-GHz-Bandes

Mit der Einführung von Wi-Fi 6E wurde erstmals das 6-GHz-Band für drahtlose lokale Netzwerke erschlossen. Der Nachfolgestandard Wi-Fi 7 (IEEE 802.11be) baut auf diesen Fortschritt auf und nutzt modernste Übertragungstechniken:

  • 320-MHz-Kanalbandbreiten, die ausschließlich im vollen 6-GHz-Band realisierbar sind,
  • 4096-QAM-Modulation für deutlich höhere Spektrumeffizienz,
  • Multi-Link Operation (MLO) für parallele Kanalnutzung mit minimaler Latenz,
  • Automated Frequency Coordination (AFC) zur dynamischen Vermeidung von Störungen.

Diese Innovationen können nur dann effektiv genutzt werden, wenn das Spektrum nicht durch regulatorische Engstellen fragmentiert wird. Ohne Zugriff auf das obere 6-GHz-Band wären in Europa nur zwei 160-MHz-Kanäle für Wi-Fi 7 nutzbar – zu wenig, um die volle Leistungsfähigkeit auszuschöpfen.

Quellen:


3. Das wirtschaftliche Argument für WLAN

Laut einer Marktstudie der Dynamic Spectrum Alliance wird mehr als 90 % des weltweiten Internetverkehrs über WLAN-Netze abgewickelt – nicht über Mobilfunk. WLAN ist für Verbraucher:innen, Unternehmen und öffentliche Einrichtungen die primäre Schnittstelle zur digitalen Welt. Eine Erweiterung des nutzbaren Spektrums ermöglicht nicht nur eine höhere Nutzerkapazität und bessere Abdeckung, sondern vor allem die kosteneffiziente Nutzung bestehender Glasfaseranschlüsse.

Das 6-GHz-Band kann ohne zusätzliche physische Infrastruktur, ohne langwierige Lizenzierungsverfahren und ohne hohe Zugangsbarrieren genutzt werden. Öffentliche WLAN-Zugänge, smarte Schulen, digitalisierte Verwaltungen, mittelständische Unternehmen – all diese profitieren direkt von der Verfügbarkeit zusätzlichen Spektrums.

Quelle:


4. Internationale Regulierung: Europa droht den Anschluss zu verlieren

Eine Vielzahl von Ländern hat das gesamte 6-GHz-Band (5925–7125 MHz) bereits für WLAN freigegeben – unter anderem:

  • USA: Volle Freigabe durch die FCC (Standard-Power mit AFC, Indoor-LPI),
  • Kanada: Entsprechende Regelung durch Innovation, Science and Economic Development Canada (ISED),
  • Südkorea, Brasilien, Saudi-Arabien: Freigabe mit spezifischen nationalen Koordinierungsregeln,
  • China: Konträre Strategie – exklusive IMT-Zuweisung für 5G/6G.

Ein vollständiger Verzicht Europas auf die WLAN-Nutzung im oberen 6-GHz-Band würde eine technologische Fragmentierung bedeuten – europäische Hersteller könnten Wi-Fi 7-Geräte nicht mehr mit dem globalen Standard kompatibel bauen, weil Kanäle und Betriebsmodi in Europa regulatorisch blockiert wären.

Quellen:


5. Die Perspektive der Mobilfunkbranche: 6G als Zukunftsversprechen

Die Mobilfunkindustrie argumentiert, dass das 6-GHz-Band als harmonisiertes Spektrum für 6G benötigt werde. Insbesondere die Eigenschaften als Mid-Band-Frequenz mit hoher Kapazität und akzeptabler Reichweite machen es attraktiv. Die GSMA warnt vor einer globalen Fragmentierung der 6G-Frequenzlandschaft, wenn Europa den 6-GHz-Bereich für WLAN reserviert.

Allerdings: Der Standardisierungsprozess für 6G ist noch in der Vorphase. Erst nach der WRC-27 werden Entscheidungen zu Frequenzzuweisungen in der ITU getroffen. Erste Markteinführungen sind nicht vor 2030 zu erwarten. Eine sofortige exklusive Reservierung in Europa würde faktisch bedeuten, dass das Spektrum über Jahre hinweg ungenutzt bliebe.


6. Technisch realisierbare Koexistenz: AFC, Indoor-Nutzung und Spektrumsteilung

Es existieren erprobte Mechanismen, um WLAN und Mobilfunk koexistieren zu lassen. Dazu zählen:

  • Low Power Indoor (LPI): WLAN-Nutzung ausschließlich in Innenräumen, mit begrenzter Sendeleistung,
  • Standard Power mit AFC: Frequenznutzung durch WLAN nur dort, wo keine Störung bestehender Dienste vorliegt,
  • Lokale Lizenzmodelle für 6G-Testfelder oder Mobilfunk-Campusnetze.

CEPT-Studien zeigen, dass diese Koexistenzmodelle technisch umsetzbar und regulatorisch handhabbar sind.

Quelle:


7. Empfehlungen an die europäische Frequenzpolitik

Europa sollte die Chance ergreifen, ein gestuftes Koexistenzmodell einzuführen, das WLAN-Nutzung sofort erlaubt und langfristig auch 6G-kompatible Lösungen integriert. Die Schritte wären:

  1. Freigabe des oberen 6-GHz-Bandes für Indoor-WLAN (LPI) sofort,
  2. AFC-basiertes Frequenzmanagement für Standard-Power WLAN im Outdoor-Bereich,
  3. Evaluierung lokaler Mobilfunklizenzen (z. B. für Industrieareale),
  4. Aufbau dynamischer Koordinierungsplattformen auf EU-Ebene.

8. Fazit: Frequenzpolitik im Dienst der digitalen Souveränität

Die Diskussion um das obere 6-GHz-Band ist mehr als eine technische Auseinandersetzung. Es geht um die Frage, ob Europa auf geschlossene Lizenzmärkte oder offene Innovationsräume setzt. Während Mobilfunkstrategien ein langfristiges Versprechen abgeben, bietet WLAN einen sofort realisierbaren Nutzen – für Millionen Menschen, Unternehmen und Organisationen in ganz Europa.

Durch eine koordinierte, offene und faire Frequenzvergabe kann Europa sowohl WLAN als auch 6G zum Erfolg führen. Dafür braucht es politischen Mut, regulatorische Innovationsbereitschaft und ein kooperatives Verständnis von Technologieentwicklung.


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